Artikel im "Brückenauer Anzeiger" und der "Main-Post" am 14. September 2002

Wildflecken - weltweit bekannt
Im einstigen Truppenlager geboren - Eine polnische Familiengeschichte

Von Heinz Leitsch

Polish Family HistoryWildflecken ist das wohl weltweit bekannteste Dorf Deutschlands. Insbesondere In den USA verbinden Millionen ehemaliger Militärangehöriger mit der Rhöngemeinde mehr oder weniger gute Erinnerungen. Doch nicht nur das US Militär trug den Namen Wildflecken in alle Welt. Bevor die Amerikaner Wildflecken wieder zu einer Militärbasis machten, diente das ehemalige Truppenlager der deutschen Wehrmacht sechs Jahre lang als "Polenlager". Tausende ehemaliger Zwangsarbeiter, vorwiegend polnischer Nation waren nach Kriegsende 1945 hier zum Teil Jahre lang untergebracht, bevor sie entweder wieder in ihre Heimat zurückgebracht bzw. ihnen die Auswanderung in andere Länder gestattet wurde.

Hunderte Kinder polnischer Auswanderer, die heute in den USA, Kanada, Australien, Südamerika und vielen europäischen Ländern leben, haben als Geburtsort den Namen "Wildflecken" auf ihrer Geburtsurkunde stehen. Viele dieser heute Anfang- bis Mittfünfziger fragten sich jahrelang wo dieser geheimnisvolle Ort sein mag, ob es Dorf, Stadt oder einfach nur der Name eines Lagers ist. Ja, dass sie in einem Lager in Deutschland zur Welt kamen war vielen bekannt. Doch über die näheren Umstände schwiegen sich die Eltern meist aus. Sie hatten alle Hände voll damit zu tun, in einer neuen Heimat wie etwa den USA, die so ganz anders war, als das kriegszerstörte Deutschland oder das eigentliche Heimatdorf in Polen, eine neue Existenz aufzubauen. Da war der Blick zurück nur hinderlich und viele sprachen zwar gerne über die polnische Heimat, aber die Rekrutierung zur Zwangsarbeit, der Einsatz in deutschen Betrieben und der anschließende Aufenthalt in den Sammellagern war nie Thema.

Auch die Geschwister Janina Micchelli und Sophia Kazparek, beide geborene Suszynski hatten jahrelang keine Ahnung wo ihr junges Leben begann. Sophia hatte in der Geburtsurkunde den Eintrag "Wildflecken", Janina, die später geboren war "Schongau" als Geburtsort. Nach dem Tod der Eltern blieben ihnen nur einige vergilbte Fotos, auf denen hochaufragende Gebäude und Menschen abgebildet waren, die sich in Räumen drängten die mittels an Schnüren aufgehängten Decken abgeteilt waren. War dies Wildflecken? oder nur eine Stadt in der Nähe? Auf alle diese Fragen fand sich schließlich an einem Abend im Februar 2001 eine Antwort. Janina Micchelli hatte endlich einen Internetanschluss und tippte in banger Erwartung das Wort "Wildflecken" in das Suchfenster ihres Internetsuchprogrammes. "Als ich dann die Fotos auf der Seite mit dem Namen "comrades.de" sah, blieb fast mein Herz stehen," erzählte sie wenig später. "Die Bilder dort zeigten die gleichen Gebäude wie in dem Fotoalbum meiner Eltern, nur in Farbe."

Eine Anfrage an den Autor der Seiten, Heinz Leitsch aus Modlos brachte endgültige Gewissheit. In einem ausführlichen Schreiben erfuhren die drei Suszynski-Geschwister, von denen zwei in Wildflecken geboren worden waren, alles wissenswerte über das Lager Wildflecken, seine Geschichte und dass das Lager vom Kriegsende 1945 bis zur Übernahme durch die US Armee im Jahre 1951 mit ehemaligen polnischen Zwangsarbeitern belegt war.

Geklärt werden konnte dabei auch eine Herzensangelegenheit der Familie: Eine Schwester der drei war kurz nach der Geburt Mitte der vierziger Jahre in Wildflecken gestorben. Niemand wusste wo ihr Grab war und auch die Umstände ihres Todes waren bis dahin mysteriös. Bis zur Kontaktaufnahme mit Herrn Leitsch war die Familie der Ansicht gewesen, dass ihre Eltern schon während des Krieges in Wildflecken inhaftiert gewesen wären. Nach Aussagen ihrer Eltern war die kleine Kazimira an den Folgen eines falschen Medikaments gestorben. Dies führte dann zu der Vermutung dass Nazi-Ärzte an dem Kleinkind Versuche durchgeführt hätten, die zu deren Tod führten. Ein Auszug aus den Gräberlisten des Polenfriedhofes klärte dieses Missverständnis umgehend auf. Kazimira war 1946 im Lager Wildflecken verstorben und auf dem Polenfriedhof beigesetzt worden. Nazi-Ärzte waren nicht im Spiel und sogar die Grabstätte ist heute noch, allerdings als Gemeinschaftsgrab auf dem neugestalteten Polenfriedhof in gepflegter, würdiger Form vorhanden.

Nach regem Informationsaustausch zwischen Janina Micchelli und Heinz Leitsch per e-Mail wuchs bei den Schwestern Janina und Sophia der Wunsch Wildflecken, den Ort der ihre Fantasie über Jahrzehnte beschäftigt hatte zu besuchen. Vor wenigen Tagen schließlich war es soweit. Über fünfzig Jahre nachdem beide Deutschland als Kleinkinder verlassen hatten, betraten sie wieder deutschen Boden. Betreut von Heinz Leitsch, der den Besuch vorbereitet hatte trafen sie Adolf Kreuzpainter der seit Jahren den Polenfriedhof betreut und Walter Kömpel aus Oberbach. Kömpel, Ortschronist der Gemeinde Wildflecken half bei der Recherche nach weiteren Unterlagen vor Ort. Insbesondere Informationen über den Einsatzort der Eltern beim Forstamt Oberhof, wo beide von Juni 1944 bis Mai 1945 Zwangsarbeit leisten mussten, stehen noch aus, Walter Kömpel ist jedoch zuversichtlich das eine oder andere noch herauszufinden.

Den bewegendsten Augenblick des Besuches der beiden Schwestern bildete sicherlich das Niederlegen eines Blumengebindes am Grab ihrer Schwester Kazimira, die zusammen mit 428 anderen polnischen Kindern auf dem Polenfriedhof unterhalb des Truppenlagers bestattet ist. "Unsere Familiengeschichte ist mit dem Besuch in Wildflecken ein Stückchen kompletter geworden," freuten sich die beiden am Ende ihres zehn-Tage-Besuches in Deutschland.

 

Bild: Janina Micchelli legt nach fünfzig Jahren einen Blumenstrauß am Grab der 428 polnischen Kinder, unter denen auch ihre Schwester Kazimira ist, nieder. Links im Bild ihre Schwester Sophia Kazparek, die ebenfalls im Truppenlager Wildflecken geboren wurde.

 

Unter Aufsicht der UNRRA
Heimatlose "Displaced Persons"

Von Heinz Leitsch

Homeless "Displaced Persons"Anfang April 1945 führte die US Armee starke Truppenverbände an das Truppenlager Wildflecken heran. Gefangenenaussagen hatten offenbar die Ansicht genährt, dass das Lager durch SS-Verbände verbissen verteidigt werden würde. Tatsächlich jedoch fielen nur wenige Schüsse und auch der durch die Amerikaner erwogene Einsatz eines Bombergeschwaders, wie er in dem Chroniken der beteiligten US Divisionen belegt ist, der Lager und wahrscheinlich auch den Ort Wildflecken in Schutt und Asche gelegt hätte, konnte unterbleiben. Nur wenige Gebäude waren durch deutsche Verwundete belegt und wurden rasch durch die Besatzer evakuiert. Die riesigen Ausmaße des Lagers machten bereits früh die Flüchtlingsorganisation UNRRA (United Nations Relief Rehabilitation Administration) auf die Anlage aufmerksam, die dringend Unterbringungsmöglichkeiten für durch die Deutschen verschleppte Zwangsarbeiter aus den ehemals besetzten Gebieten suchte.

Ziel der UNRRA war es, diese "Displaced Persons", kurz "DPs" genannten Personen getrennt nach Volksgruppen im ehemaligen Reichsgebiet zu sammeln und von dort aus in ihre Heimatländer zurück zu führen. In diesem Zuge wurden im Lager Wildflecken ab Mai 1945 knapp 20.000 polnische "DPs" zuammengezogen. Zunächst unter der Verwaltung der US Armee, gelang es aufgrund der erheblichen Überbelegung des Lagers, grassierenden Krankheiten, Mangel an Lebensmitteln, Medikamenten und Kleidung und auch einer gewissen Rachsucht der nun befreiten Polen nicht, ein Mindestmass an Ordnung im Lager herzustellen. Plünderungen der angrenzenden Ortschaften, eines Wehrmachtzuges mit Lebensmitteln der am Arnsberg abgestellt war und Raubüberfälle, teilweise mit Todesfolge, auf Einheimische waren an der Tagesordnung. Eine Verbesserung der Verhältnisse ergab sich mit der Übernahme des Lagers durch ein UNRRA-Team, Ende Mai 1945. Lagerleiterin wurde die amerikanische Journalistin Kathryn Hulme, die später Leiterin aller Lager im amerikanischen Sektor wurde. Hulme verarbeitete ihre Erlebnisse später in dem Buch "Wild-Place", das in den USA zum Bestseller wurde und 1952 den "Atlantic Non-Fiction Prize" gewann.

Durch die Installation eines kommunistischen Regimes in Polen wurde der Rücktransport der polnischen "DPs" nach Polen jedoch immer mehr zum Problem. Besonders der Teil Polens, der 1939 von der Sowjetarmee besetzt worden war, gehörte mittlerweile nicht mehr zum polnischen Staatsgebiet. Als Ersatz waren die ehemaligen deutschen Ostgebiete Polen zugeschlagen worden. Diejenigen Polen, die also ursprünglich aus dem nun russisch gewordenen Teil Polens kamen, waren heimatlos geworden und weigerten sich zurück zu kehren. Manche die bereits nach Polen zurückgekehrt waren, schlugen sich durch den sowjetisch besetzten Sektor durch und kehrten nach Wildflecken zurück. Sie berichteten von Repressionen gegen die Rückkehrer und schilderten die Zustände im sowjetisch dominierten Polen. Immer weniger Polen waren daraufhin bereit in ihre Heimat zurück zu kehren. Auch die gewaltsame "Repatriierung", die eine Zeitlang durchgeführt wurde, endete nach dem einige DPs es vorgezogen hatten vorher Selbstmord zu begehen. Als Folge dieser Situation ergab es sich daher, dass aus dem kurzen Aufenthalt der ja nur bis zum Rücktransport nach Polen anhalten sollte, teilweise fünf und mehr Jahre im Lager wurden.

Der dichte Wald, der Lager Wildflecken bis 1945 Tarnung und Schutz geboten hatte war bald verschwunden. Tag und Nacht rauchten die Schlote der Feldbäckerei im Lager, in der mehrere Tonnen Brot pro Tag gebacken wurden. Um die Gebäude vor allem im Winter warm zu halten, schnitten die Bewohner Hölzer aus den Dachstühlen, sogar die inneren Flügel der Kastenfenster wurden ausgebaut und verheizt. Da es der UNRRA bis 1947 noch immer nicht gelungen war, den Massen der polnischen DPs Herr zu werden, wurde die Organisation kurzerhand von ihrer Aufgabe entbunden. Im Juli übernahm daher die IRO (International Refugee Organisation) Lager Wildflecken. Ziel war nun nicht mehr die Rückführung nach Polen sondern die Verteilung der "DPs" auf Länder in Europa, Amerikas und Australien. Dazu führte die IRO Sprachkurse sowie berufliche Qualifizierungsmaßnahmen durch. Insbesondere die Auswanderung in die USA gestaltete sich schwierig, da dafür erst das für alle Volksgruppen geltende Quotensystem entsprechend verändert werden musste.

Erst durch den "U.S. DP Act" von 1948 wurde es für viele polnische "DPs" möglich in die USA, außerhalb der Quote einzuwandern. Als Lager Wildflecken 1951 geräumt wurde, um Platz für das US Militär zu machen, waren jedoch längst nicht alle Polen ausgewandert. Viele wurden auf andere Lager verteilt und mussten dort bis 1953 ausharren, bis auch für sie eine Lösung gefunden wurde. Weitere Informationen zum "Displaced-Persons-Camp Wildflecken" gibt es im Internet unter www.dp-camp-wildflecken.de oder unter www.truppenlager-wildflecken.de.

 

Bild: Laufen lernten hunderte polnische Kinder, wie hier Sophia Kazparek (rechts) mit ihrem Bruder Adam, auf der Pflasterstraße im Truppenlager Wildflecken.

 

 

 

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